Die Tür fiel ins Schloss. Kaum zu glauben, dass es erst neun Uhr gewesen war, als wir das Haus verlassen hatten, denn es begann bereits zu dämmern, der Weg zu meiner Hütte und zurück war wohl doch länger gewesen als er mir erschienen war und wir hatten erschreckend viel Zeiten draußen im Wald verbracht, bevor wir wieder zum Haus gekommen waren. Ich glaube wir waren beide nicht in der besten Verfassung unseren Weg zurück zu finden.
Zumindest meine Gedanken spielten verrückt. Es gab nur ein gewisses Maß an schockierenden Wendungen, die ein Mensch hintereinander aushalten kann ohne verrückt zu werden und ich war nicht sicher ob ich diese Grenze bereits überschritten hatte. Ich war mir sicher, dass ich vor 24 Stunden nicht einmal in meinen schlimmsten Träumen zusammen mit June freiwillig in dieses Haus zurückgekehrt wäre.
Doch hier war ich nun. Kaum waren wir durch die Tür ließ ich mich schon auf einen der Stühle plumpsen, das Gesicht in den Händen vergraben. Ich hatte mein Haus verloren, meine Kontrolle über die Situation und meinen Hass gegenüber meiner Entführerin, alles in den letzten Stunden.
June sah ein, dass ich Zeit für mich brauchte, eine weitere Sache, die neu an ihr war. Ich hatte häufig Freizeit gehabt, wann immer sie bei der Arbeit war, beispielsweise, aber wenn sie da war, hatte sie mich permanent beansprucht, ich hatte niemals Gelegenheit allein zu sein. Ich war froh darüber zu sehen, wie sie ins obere Stockwerk zurückkehrte während ich sitzen blieb und meinen Gedanken nachhing.
Jetzt da ich das erste Mal einen Überblick über die gesamte Geschichte hatte, konnte ich die Puzzleteile endlich zusammenfügen. Endlich konnte ich in meinem Kopf Junes Geschichte linear betrachten.
June war mit brutalen, grausamen Eltern aufgewachsen, die ihr wer weiß was angetan haben mussten. Eines Tages war es ihr zu viel geworden und sie hatte, im Affekt, ihre Eltern getötet. Davon hat man schon gehört. Sogar vor Gericht kommt man dafür meistens wieder frei, mit Ausnahme vielleicht von psychologischer Unterstützung, etwas das June offensichtlich auch nötig hatte.
Ihre Eltern zu töten war jedoch so belastend für sie gewesen, dass sie einen geistigen Zusammenbruch erlitt, ihr Leben war komplett über den Haufen geworfen worden. Sie brauchte etwas an dem sie sich festklammern konnte um ihren Leben neuen Sinn zu geben.
Ich vermute, dass sie Werwolfgeschichten schon vor der ganzen Sache gemocht hat, oder erst dann mit ihnen anfing, jedenfalls fokussierte sie sich fanatisch auf diese, sie baute ihr Haus in ein ideales Werwolfsgefängnis um und machte sich auf die Suche nach einem solchen. Sie hatte das Glück in der Nähe von meinem Wald zu leben, der, laut Legenden, auch von anderen Werwölfen bewohnt wird, auch wenn ich nie einen von denen gesehen habe, und fing mich ein. Und hier begann meine Geschichte. Und, auch wenn ich diesen Gedanken nicht gerne hatte war es für mich durchaus wertvoll sie an meiner Seite zu haben. Nicht nur, dass ich so nicht mehr allein wäre, sondern auch, dass ich so jemanden in meiner näheren Umgebung hätte, der meine Wolfsgestalt bändigen konnte. Mit June an meiner Seite würde ich mein Haus nie wieder niederbrennen...
Es war draußen schon stockfinster als ich mich endlich aus dem Stuhl erhob. June hatte sich bereits vor einer Stunde schlafen gelegt, ich hatte ihren Abschied am Rande bemerkt, und ich entschloss mich ihr zu folgen. Auf dem Weg ins Bett kam ich erneut an dem Grabraum vorbei, in dem Junes Eltern noch immer ruhten. Warum sie sie wohl nicht begraben hatte?
Einer Eingebung folgend bog ich nochmal ab, um den Leichen einen weiteren Besuch abzustatten. War es nicht das, was meine Mitbewohnerin darin all die Nächte getrieben hatte? Ihre Eltern besucht? Doch als ich meine Hand auf die Klinke legte musste ich feststellen, dass die Tür erneut abgeschlossen war.
Trotz allem was geschehen war, ich war ernsthaft sicher, dass mich nun nichts mehr überraschen würde, lies mich das doch nicht ganz unberührt. Nach allem was geschehen war hatte sie den Raum wieder abgeschlossen? Das Zimmer, das sie nur verriegelt hatte, um mich von ihrem schlimmsten Geheimnis fernzuhalten?
Was hatte sie dazu bewegt? Ich war an dem Punkt angekommen, an dem ich alle Vorsicht vergessen hatte. Ich hatte ein direktes Gespräch, einen Leichenfund und den Verfall meiner eigenen Behausung überlebt, jetzt, so meinte ich, würde ich alles überleben. Also riskierte ich es ein weiteres Mal.
Auf leisen Sohlen schlich ich hinauf und durch die Tür ins Schlafzimmer. June schlummerte tief und fest, wie ein Engel lag sie da, auch wenn wohl jede andere Beschreibung für ihre wache Person passender gewesen wäre. Ohne ein Knarzen der Dielen zu verursachen schnappte ich mir den Schlüssel erneut, diesmal aus ihrer Nachttischschublade, wo sie jede Nacht verbrachten.
So schnell ich konnte, ohne ein Geräusch zu verursachen, hastete ich wieder nach unten um die Tür ein weiteres Mal zu öffnen. War noch etwas anderes in dem Raum? Wollte sie irgendetwas verbergen, das ihre bisherige Geschichte widerlegen konnte? Nun wollte ich alles wissen, so weit wie ich gekommen war.
Welche buchstäblichen Leichen hatte June noch im Keller?
Ein schnelles Drehen, ein Klacken des Schlüssels, und die Tür schwang ins Dunkel. Ich war schon wieder genötigt den Geruch zu erdulden, der gleichzeitig an Beerdingungen und Parfümerien erinnerte, als ich eintrat und den Schlüssel stecken ließ. Das standen sie im Finstern, genau wie zuvor, die beiden Särge. Doch erst jetzt fragte ich mich, warum sie an den Seiten des Raumes standen. Was war mit der gegenüberliegenden Wand? Dort hätte man sie viel schöner deponieren können und zudem weniger Kerzen gebraucht.
Ich weiß nicht, warum ich damals geschlichen bin, denn ich wusste ja nicht, dass June Sekunden später aufwachen und das Fehlen der Schlüssel anhand der noch halb geöffneten Schublade bemerken würde. Aber Vorsicht war ja die Mutter der Porzellankiste.
Und so bemerkte ich nur allzu bald im dämmrigen Licht, dass die hintere Wand gar keine war. Stattdessen befand sich hier in breiter und recht straffer Vorhang, der mit letztes Mal gar nicht aufgefallen war. Energisch packte ich den Stoff, bereit ihn zur Seite zu ziehen. Jetzt würde ich das letzte Geheimnis entdecken.
Der Stoff flatterte und enthüllte eine kleine Kammer, abgeschnitten vom Rest des Raumes. Eine weitere Kiste stand hier, auch wenn sie den anderen Beiden kaum ähnelte. Diese war größer und weit gröber gezimmert, aus billigem Holz, als wäre es auf die schnelle geschehen. War das etwa ein weiterer Sarg? Eine weitere Leiche, die hier auf mich wartete, oder ein anderes Rätsel?
Knarrend öffnete sich der Sarg und offenbarte etwas schlimmeres als ich es mir je hätte erahnen können. Wie war... hatte June etwa...
“Ich wollte nicht dass es soweit kommt.”
June. Ihre Silhouette war in der Tür deutlich zu erkennen. Konsequent schritt sie durch den Raum und legte einen Arm um mich, doch ich wich zurück, weg von dem Sarg.
“Woher kommt diese Leiche? Wie...”
“Es war ein Unfall... Er hat zu früh von meinen Eltern erfahren. Es gab keinen anderen Weg.” Mit einem Ruck zog sie das Messer, das in der Leiche gesteckt hatte heraus, das Silber glänzte im Dunkeln.
“Er konnte nicht mit mir weiterleben. Und jetzt hast du zu früh von ihm erfahren.”
Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel, bevor sie ihre Waffe auf mich richtete.
“Jetzt kannst du nicht mit mir weiterleben.”